series invisible | Christoph Korn & Lasse-Marc Riek

 

series invisible | Christoph Korn & Lasse-Marc Riek
English | Deutsch
Gruen 215 | Limited Edition Box Set mit 10 CDs und Buch > [Bestellung]
Rezensionen

 

Audioarbeit von Christoph Korn und Lasse-Marc Riek, 2004-fortlaufend

 

Mit Hilfe eines Audio Rekorders wird der Klang ausgewählter Orte oder spezifischer Klangphänomene aufgezeichnet. Zu einem späteren Zeitpunkt werden diese O-Ton Aufnahmen wieder gelöscht. Dieser Vorgang wird notiert und in Form von »Schrift« festgehalten. So entsteht eine Serie von Notaten.

 

Beispiel:
Wind (sanft)
Aufnahme: 8.8.2021, 15:24 Uhr, Mönbachtal Eifel, (D)
Gelöscht: 8.8.2021, 15:31 Uhr
Dauer der Aufnahme: 3´17´´

 

Im Januar 2023 wurden alle seit 2004 erstellten Notate im Tonstudio des Südwestrundfunks von einer weiblichen und einer männlichen Stimme eingesprochen. Die hier vorliegende CD Edition dokumentiert eine Auswahl davon. Die Notate erklingen immer im Wechsel von weiblicher und männlicher Stimme. Die in ihnen verzeichnete „Dauer der Aufnahme“ wird jeweils als Stille gehalten.

 

Stimmen: Caroline Junghanns und Ole Lagerpusch
Dramaturgie und Redaktion: Manfred Hess
Ton und Technik: Tanja Hiesch und Christian Eickhoff
Produktion: Südwestrundfunk 2023
Gestaltung: U9 visuelle Allianz, Offenbach am Main

 

Ermöglicht durch eine Förderung der Stiftung Kunstfonds (Neustart
Kultur), Startnext und dem Fachbereich Kultur der Stadt Hanau.

 

Danke an Nora Grozdek für die Ermutigung und Unterstützung, an das Team von U9 für das wunderbare Artwork. Danke an Claas Morgenroth, Manfred Hess (SWR) und Roland Etzin. Danke an Christian Klisch, allen Startnext-Unterstützer*innen und die Stadt Hanau

 

Sound Art Series by Gruenrekorder
Deutschland / 2023 / Gruen 215 / LC 09488
Box Set (Book + 10 CDs), 10 Tracks (667:53), Auflage 20 Exemplare

 


 


 

Claas Morgenroth
Die Löschnotate von Christoph Korn und Lasse-Marc Riek sind Erinnerungsstücke, die etwas ersetzen, das nicht mehr ist. Sie dokumentieren einen Klang, der oftmals an einem Ort von persönlicher oder historischer Bedeutung aufgenommen wurde, manches Mal aber auch etwas Beiläufiges zum Gegenstand hat, das Summen einer Biene, das Rauschen des Windes. Es sind akustische Ereignisse, die zu unserer natürlichen Umgebung gehören und die nicht verursacht, sondern aufgezeichnet werden. Übrig bleibt ein Notat, das gelesen oder vorgelesen davon berichtet, dass etwas unwiederbringlich verlorengegangen ist. Dieser Verlust wird bewahrt und aufbewahrt, indem seine Dauer als Stille reproduziert wird, in der Innen- und Außenwelt der Wahrnehmung.

 

Verblüffend ist, wie durch dieses einfache Verfahren (aufnehmen, löschen, übertragen) die Zeichenhaftigkeit des Gedächtnisses und die Doppelstruktur unserer Aufzeichnungsmedien zum Ausdruck kommt. Im Erinnern beziehen wir uns auf eine Welt, die abwesend ist – für uns und andere. Dies hat das Erinnerungsvermögen des Menschen mit dem Sprachzeichen gemeinsam, das auf etwas Abwesendes verweist und durch dieses Verhältnis seine eigene Wirklichkeit entfaltet. Aufzeichnungsmedien sind ganz ähnlich strukturiert. Ihre Materialien und Instrumente haben die Aufgabe, zu speichern, zu verarbeiten und zu löschen. Der antike stilus etwa verfügte über ein spitzes Ende, mit dem man Buchstaben in Wachstafeln ritzte, und über ein spatelförmiges Ende, mit dem das geritzte Wachs wieder glatt gestrichen werden konnte. Wer aufzeichnet, löscht. Vergleichbares gilt für alle Gedächtnismaschinen – bis heute. Sie folgen der Zweiseitigkeit der Erinnerung, die festhält, was wieder vergessen werden kann oder soll.

 

Die series invisible inszenieren diese Beziehung zwischen dem archivierten Ereignis, seiner Aufhebung und Verwandlung als Medienwechsel, vom Klangereignis auf einem Tonträger zum Wort, geschrieben und gesprochen. Dieser Übergang vom Laut zum Lautzeichen verlangt präzise Regeln, eine strenge Form. Vermerkt werden Adresse, Datum und Uhrzeit der Aufnahme, Datum und Uhrzeit der Löschung, außerdem die Dauer der Aufnahme. Diese rudimentäre, ja karge Struktur des Erinnerns zeitigt verschiedene Effekte, die zunächst einmal intim sind. Korn und Riek geben einem Ort, einer Stunde, einem Klang eine besondere Aufmerksamkeit, eine Aufmerksamkeit, die zugleich durch diesen Ort, diese Stunde, diesen Klang herausgefordert und bezeugt wird. Was sie genau bewegt, wissen wir nicht. Man kann es zuweilen erraten, anhand der Namen, die die Löschnotate im Titel tragen („Privatwohnung“, „Institut für Sozialforschung“, „Haftanstalt für Abschiebung“). Eine Kleinigkeit sorgt dafür, dass die Ereignishaftigkeit der Aufnahme sich zum Ereignis des Gedenkens hin verschiebt. Die Notate verzeichnen, wo eine Aufnahme entstanden ist, nicht aber, wo sie gelöscht wurde. So wird mit dem Verlust des Klangs und der Ortlosigkeit seines Endes unser Vorstellungsvermögen herausgefordert; an die Stelle eines akustischen Geschehens tritt die stille Anschauung seiner Dauer. Was bleibt, ist die Wiederholung der Vergangenheit in der Ruhe ihrer Vergegenwärtigung. „Wiese bei Jossgrund/Oberndorf. Aus einer Buschreihe heraus aufgenommen. Aufnahme: 25.09.2005, 15:43 Uhr, gelöscht am: 26.09.2005, 11:43 Uhr. Dauer der Aufnahme: 2´25´´“.

 

Wir können die Löschnotate als Einladung begreifen. Sie verschaffen den verschiedenen Formen der Einkehr und Sammlung, der Kontemplation und Versenkung Platz im Innenraum des Hörens. So können wir die intime Erfahrung der Aufzeichnung für uns wiederholen, indem wir ihren Verlust in der Erinnerung erleben; so kann sich mit der Stille des Notats das Rauschen der leeren Welt ausbreiten und in der Phantasie des Menschen spiegeln; so bleibt als Zeit erhalten, was als akustischer Ort verschwunden ist. Die Löschnotate dürfen aber auch als Interventionen verstanden werden gegen die Herrschaft des Wachstumsprinzips, das im Rücken der Geschichte Trümmer um Trümmer aufhäuft. Denn im Mittelpunkt steht die Kehrseite des Produktionsprozesses – das Verstummen. In diesem Sinne üben sich die series invisible in der Praxis des Entzugs, der Profanierung und Freilassung der Wahrnehmung aus den Zwängen des Dauerkonsums. Damit verknüpft ist eine bestimmte ästhetische Haltung. Zur Idee der Kunst hat immer gehört, etwas schaffen zu wollen, um zur Entfaltung der Möglichkeit und der Potentialität der Welt beizutragen. Daran gebunden war und ist ein materieller Fortschritts- und Aktivitätsbegriff, der unablässig ist. Die Löschnotate von Christoph Korn und Lasse-Marc Riek kehren diese Idee um. Sie suchen bewusst aus, was gelöscht werden soll und bewahren so, was sonst verschwunden wäre. Aber sie bringen im Grunde nichts hervor, sondern bezeugen, was unverfügbar ist. Wer sich beharrlich und geduldig dieser Unverfügbarkeit zuwendet, wer seine Aufmerksamkeit darauf lenkt, was unterlassen bleibt und dadurch gezeigt wird, der kann die Erfahrung machen, dass diese Form der Unterlassung sinnlich und politisch und schön ist.

 


 

Georg Imdahl
In der „Photographie“, schreibt Roland Barthes, lasse sich „nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist“. Den Protagonisten in „Austerlitz“ lässt W.G. Sebald berichten, gerade wo er sich „mühe, mich zu erinnern“, löse sich „das Dunkel nicht auf, sondern verdichtet sich bei dem Gedanken, wie wenig wir festhalten können, was alles und wieviel ständig in Vergessenheit gerät, mit jedem ausgelöschten Leben, wie sich die Welt sozusagen von selbst ausleert, indem die Geschichten, die an den ungezählten Orten und Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben, von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt werden“.
Die Protokolle des Aufzeichnens und Löschens der „series invisible“ bezeugen in wenigen Daten – Location, Record, Delete, Duration –, dass etwas gewesen ist. Es sind Klänge, die aufgezeichnet und gelöscht wurden, nicht Bilder. Schlägt das Unsichtbare im Titel der Serie einen Bogen zur Photographie? Konkret erinnern die Notate an Orte, Personen, Ereignisse, nicht minder an die Selbstausleerung der Welt, an ausgelöschtes Leben, die Vergessenheit, die, partiell und paradigmatisch, ihrer selbst entrissen wird, an den Vorgang des Aufzeichnens und Löschens, an die Erinnerung selbst.

 


 

Achim Wollscheid
Erstaunt müssen wir feststellen, dass, je mehr Dinge wir haben, wir sie umso weniger haben. „Haben“ im Sinne eines Wissens darüber was und wie sie sind – in Bezug auf andere Dinge und in Bezug auf uns und was sie in beiderlei Hinsicht bedeuten. Was ist das für ein Wissen, das wir sammeln? Gibt es irgendetwas außerhalb dieses Wissens das real ist? Was heißt es, zu wissen? Wissen – als Information, auf Daten-Trägern gesammelt, in Stein geritzt, als Buch gedruckt oder auf Hard-Disk gespeichert? Oder müssen wir Wissen als den unvermeidlichen Strom von Klang, Clips, Features und Nachrichten akzeptieren, der den Film des Tages ausmacht? Es scheint, dass je ungewisser die Gründe für unser Hiersein werden, es umso notwendiger die Begleitung durch gespeicherte oder flüchtige Daten braucht – als eine Art wachsendes Polster, damit wir uns selbst nicht zu fassen bekommen.
Können wir zu den Dingen zurück? Und zu uns? Ich denke nicht – denn an welcher Kurve sollten wir umkehren? Als Künstler entwickeln, erweitern und verfeinern wir unweigerlich den Symbolgebrauch – und deshalb helfen wir dieses Polster zu vergrößern – gleichzeitig als Täter und Opfer der jeweils angewandten Methode. Worin bestünde gegebenenfalls eine verantwortliche Maßnahme diese Methoden selbst-reflexiv werden zu lassen? Möglicherweise aus Löschvorgängen.

 


 

Links und weitere Projekte:

 

Auf der Website www.series-invisible.de sind alle seit 2004 erstellten Löschnotate einer interessierten Öffentlichkeit bereits zugänglich gemacht worden.

 

In den Jahren 2007 und 2013 wurden jeweils ein Buch mit einer Auswahl an Löschnotaten über die Audioverlage Selektion, Revolver und Gruenrekorder veröffentlicht.

 

series invisible – collection 1 (2007)
series invisible – collection 2 (2013)

 

Ein weiterer Schritt dieses Projekts war die performative Umsetzung mit dem Material. Eine dreitägige Performance fand im Rahmen des Wandelweiser Festivals „Klangraum 2016“ im Kunstraum Düsseldorf statt.

 

„series invisible“ wurde 2008 für den französichen Klangkunstpreis Phonurgia Nova Award nominiert und erhielt eine besondere Erwähnung.

 

In der gleichnamigen Radioproduktion im SWR2 (Ursendung vom 25.3.2023) werden alle Notate aus dem Zeitraum von 2004-2022 gelesen. Download bis 24.03.2024.

 


 

Rezensionen

 

Rigobert Dittmann | Bad Alchemy Magazin (122)
“series invisible” (Gruen 215) ist eine 2004 begonnene Kollaboration von CHRISTOPH KORN (Imperial Hoot, Arbeit, Blank) und LASSE-MARC RIEK (der 2003 Gruenrekorder mitbegründet hatte). Dabei sammelten sie zig Field Recordings, die sie aber in einer wei­teren Drehung wieder löschten, um das nur als Notate zu protokollieren – Beispiel: 2 Ort Bahnhof Aufnahme 18.10.2006, 13:05 Uhr, Bad Kleinen Gelöscht am 21.10.2006, 20:04 Uhr Dauer der Aufnahme 4’40“. Als vollständiges Box-Set füllt das 10 CDs und ein Buch. Hier versammelt auf einer CD plus Booklet ist eine Auswahl von 22 solcher Notate, ab­wechselnd gelesen von einer Männer- und einer Frauenstimme: 1 Wiese bei Jossgrund/ Oberndorf, 3 Waldstück, 4 Gesang einer Goldammer, 5 Schlafphase Elli-Mia Riek, 6 Woh­nung von Walter Benjamin, 7 Flugzeugüberflug Nr. 9, 8 Flugzeugüberflug Nr. 10, 9 Flug­zeugüberflug Nr. 14, 10 Klosterzimmer, 11 Privatwohnung, 12 Tel Aviv Museum of Art, in der Nähe des Kunstwerks „Solitude“ von Marc Chagall, 13 Privatwohnung, 14 Mohammed-al-Amin-Moschee, 15 Wiese bei Jossgrund/Oberndorf. Aus einer Buschreihe heraus auf­genommen, 16 Holzbiene (in der Kirschblüte nach Nektar suchend), 17 Rosenkäfer (auf dem Rhododendron ruhend), 18 Der Ettersberg (in der Nähe des ehemaligen KZs Buchen­wald), 19 Schnee (ganz still), 20 benedicere – als Lobpreis des Lichts, der Vögel, der Bu­chen und Birken und Eichen, des Efeus, des Klangs, des Holzes, des Laubs und der Stei­ne, des Winds, des Atems, des Lebens, der Kranken, des Gelbs und des Grüns, der Idio­ten, der Blumen, des Tods, des Teers, des Vaters, der Mutter. 21 Privatwohnung (Fußnote: Krieg – am 28.2.22 ist das der russische Überfall der Ukraine), 22 Tesla Fabrik. Die Aus­wahl ist schon vielsagend, mit Benjamin und Chagall, Juden und Moslems, KZ und RAF, Idylle und Krieg. Die Stille an sich aber auch: Über das Vergehen und Vergessen, das postmoderne Sammeln, Archivieren, Musealisieren. 22 mal das ‚4:33‘-Angebot, doch nicht um Erwartung in Wahrnehmung zu verwandeln, sondern als Freiraum für die Vor­stellungskraft, die Erinnerung, für Momente der Besinnung. [BA 122 rbd]
link